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Kaukasische Bibliotheken (Seite 52)

In den vergangen zwei Jahren erhielt die Bibliothek für das Sondersammelgebiet 6.23 Vorderer Orient aus Nachlässen zwei Bibliotheken, die sich vorwiegend auf das Gebiet des Kaukasus beziehen. Die erste Bibliothek, 1975 von der Witwe des Sprachwissenschaftlers Professor Dr. Johannes Bechert überreicht, ist ein Teil von Becherts Gesamtbibliothek und beinhaltet Werke zu den Sprachen Dagestans. Die zweite, 1996 aus Zürich erhalten, ist die Gesamtbibliothek von Professor Dr. Kita Petre Tschenkeli (1895 - 1963) und stellt wohl die umfassendste Bibliothek im deutschen Sprachraum zur Kultur und Geschichte Georgiens dar.

Vielen nun werden die Begriffe Dagestan und Georgien wenig sagen. Beide Gebiete liegen im Kaukasus, der sich auf einer Strecke von 1500 km vom Schwarzen Meer bis zum Kaspischen Meer erstreckt. Südlich vom Kaukasus befinden sich die Hochländer von Anatolien und Armenien mit dem Berg Ararat. Das Gebiet des Kaukasus umfasst eine Fläche von 440000 qkm und wird allgemein in drei Teile gegliedert: in Nordkaukasien, den Grossen Kaukasus und Transkaukasien. Die höchsten Berge befinden sich im Grossen Kaukasus zwischen dem Elbrus mit 5633 m im Norwesten und dem Kasbek mit 5058 m im Süden.Dieses unzugängliche Gebiet hat seit je vielen Völkern Schutz und Sicherheit gegeben, sodass bis in heutiger Zeit sich die verschiedensten Gruppen mit eigenständigen, gegenseitig nicht verständlichen Sprachen behaupten konnten. Schon im Altertum war diese Vielfältigkeit der kaukasischen Bevölkerung bekannt, und man nannte den Kaukasus auch den "Berg der Sprachen". Wenn zwar auch die Behauptung arabischer Geographen des Mittelalters, dass am "Berg der Sprachen" 300 Sprachen gesprochen werden, fabelhaft übertrieben ist, so ist eine Zahl von etwa 40 Sprachen auch nicht zu verachten, vor allem wenn man berücksichtigt, dass diese Sprachen aus den verschiedensten Sprachfamilien stammen. So gehören z. B. das Armenische, Kurdische und Ossetische wie das Deutsche, Englische, Französische, Russische, Persische und Hindi zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Das Aserbeidschanische, Nogaische und Kumykische, die ehemalige Handelssprache Dagestans, wiederum sind ein Teil der grossen, bis nach China reichenden Familie der Turk-Sprachen. Den Hauptteil der Sprachen bilden aber die sogenannten kaukasischen Sprachen. Der Begriff "kaukasische Sprachen" ist eine Art Notlösung; denn in Wirklichkeit handelt es sich hier um drei große Sprachgruppen, deren Verwandtschaft untereinander bis jetzt noch nicht bewiesen werden konnte. Ebenfalls konnten keine Verwandtschaftsbeziehungen einer dieser Gruppen zu Sprachfamilien ausserhalb des Kaukasus festgestellt werden, sodass man diese Gruppen als isolierte Sprachfamilien ansehen muss. Diese kaukasischen Sprachen besitzen für Europäer, aber auch für Leute mit einer Turksprache als Muttersprache eine Grammatik, die ihnen so exotisch erscheint, dass man von einer Erlernung abschreckt. Sie besitzen Laute, die für den Europäer nur mit grösster Mühe erlernbar sind. So gibt es im Abchasischen einen Laut, der wie ein geblasenes ü klingt oder das Tscherkessische hat verschiedene Sch-Laute, deren Verschiedenheit der Ungeübte überhaupt nicht erkennt. Das Awarische gar hat vier verschiedene L-Laute und das Lakkische sechs verschiedene K-Laute. Diese Laute kommen dann noch so "gemischt" vor, dass man glauben möchte, eine solche Kombination sei gar nicht aussprechbar, wie z.B. Georgisch "vprtzkvni (vp'rc'k'vni)" "ich schäle etwas" oder "mtzwrtneli (mcvrt'neli)" "der Trainer". Viel Spass beim Üben! Übrigens, die in Klammern gesetzten Wörter sind in der üblichen "wissenschaftlichen" Umschreibung. Über die Rauhheit mancher kaukasischer Sprachen gibt es sogar eine Anekdote aus dem osmanischen Mittelalter. Der Sultan hatte seinen weisen Minister auf Reisen geschickt, um von jeder Sprache in seinem Reich eine Sprachprobe zu erbringen. Als der Wesir alle seine Sprachproben vorgetragen hatte, fragte ihn der Sultan, ob dies alles sei. Darauf antwortete der Wesir, dass es noch eine Sprache, nämlich das Abchasische gäbe. Als er zur Abgabe einer Sprachprobe gebeten wurde, liess er sich einen Tonkrug mit Kieselsteinen reichen, begann die Kieselsteine darinnen kreisen zu lassen und sprach: "So, o grosser Herrscher, klingt Abchasisch." Das ist natürlich trotz der etwas eigenartigen Laute des Abchasischen ganz schön übertrieben.Aber auch die Grammatik ist recht ungewöhnlich. Den Satz "Der Vater gibt dem Sohn Brot" übersetzt der Abchase etwa: "Vater sein-Sohn Brot es-ihm-er-geben-jetzt-vonstattengeht" oder "Du bist betrunken" als "der-Wein du-sein-Getöteter-vonstattengeht" oder "der mich liebt" als "gut ich-wessen-Gesehen-werdender". Andere Sprachen, wie z.B. das Tschetschenische, die Sprache des Volkes, das über zwei Jahre in einen blutigen Krieg mit Russland verwickelt war, teilt seine Hauptwörter nicht wie das Deutsche in drei Klassen (männlich, weiblich, sächlich) ein, sondern in sechs Klassen. Doch sei nun genug über Lautlehre und Grammatik von Sprachen gesagt, deren Namen die meisten Leser wohl noch nie gehört haben. Kehren wir lieber zu den zwei Bibliotheken zurück:

Die erste Bibliothek, die aus dem Nachlass von Professor Dr. Johannes Bechert stammt, betrifft wie schon erwähnt die Sprachen Dagestans. Professor Bechert konnte in den Sechziger-Jahren Machatschkala, die Hauptstadt der Republik Dagestan in der Sowjetunion besuchen. Von dort brachte er neben rein sprachwissenschaftlichen und ethnographischen Fachwerken auch eine Reihe von Schulbüchern in den Sprachen Dagestans und der anliegenden Gebiete mit. Diese Schulbücher, die wohl einmalig in einer deutschen Bibliothek sein dürften, sind das eigentlich Interessante der Sammlung. Die Sprachen Dagestans waren bis zur Jahrhundertwende immer nur gesprochene Sprachen. Es gab zwar in einigen schon vorher schriftliche Dokumente, doch war ihre Anzahl sehr gering und es handelte sich oft um kurze religiöse Texte aus dem Islam. So gibt es z.B. einige awarische Wörter in einem 1485 in Andi, Dagestan, gedruckten arabischen Buch. In einem 1507 im Aul (Dorf) Akuscha erschienenen, arabisch geschriebenen Buch finden sich einige Sätze in lesginischer Sprache. Erst nach der Errichtung der Sowjetmacht im Kaukasus begann man einige Sprachen als Schriftsprachen zu etablieren. Dazu brauchte man für die zu druckenden Schulbücher Alphabete. Da aber viele der neuen Schriftsprachen von Anhängern des Islams gesprochen wurden und die arabische Schrift zum Lesen des Korans bereits erlernt worden war, versuchte man diesen neuen Sprachen eine Schrift auf Grundlage des arabischen Alphabets zu geben, wobei man die dem Arabischen fremden Laute durch Zusatzzeichen ergänzte. Diese arabische Schrift wurde dann in den Zwanziger-Jahren durch eine mit vielen Sonderzeichen versehene Lateinschrift ersetzt. Schliesslich wurde diese Schrift durch das russische, oft auch durch Sonderzeichen erweiterte Alphabet ersetzt, das heute noch in Gebrauch ist. Professor Bechert gelang es damals in Machatschkala trotz vieler Schikanen gewisser, damals recht aktiver "Staatsschützer" einige Schulbücher, die in diesen drei Alphabeten geschrieben, jedoch inhaltlich identisch waren, zu erwerben und so eine sprachgeschichtlich wichtige Epoche der Entwicklung der Dagestansprachen zu dokumentieren.

Die zweite Bibliothek, aus dem Nachlass von Professor K. Tschenkeli, ist ein Sammlung von ca. 1000 Werken, die sich mit der Kultur und Sprache des georgischen Volkes beschäftigen. Es finden sich dort neben z.B. sprachwissenschaftlichen Werken schöne Ausgaben der georgischen Klassiker. Doch was ist eigentlich Georgisch? Es gehört mit dem Mingrelischen, Swanischen und Lasischen zur südkaukasischen Sprachfamilie und ist neben dem Armenischen die einzige Sprache des Kaukasus mit einer alten Literatur. Es besitzt eine eigene Schrift und seine ersten literarischen Zeugnisse stammen aus dem vierten Jahrhundert n. C. Die erste Inschrift stammt aus dem Jahre 493/4, befindet sich an der Zionskathedrale in Bolnisi und ist in dem "Mrglowani chutzuri (mrglovani xucuri)" (runde Priesterschrift) genannten Alphabet abgefasst. Aus ihr entwickelte sich die heute noch verwandte und "Mchedruli (mxedruli)" (Kriegerschrift) genannte Schriftform. Die ersten Schöpfungen der georgischen Literatur sind religiösen Inhalts, wie Heiligengeschichten oder religiöse Lyrik. Eigenartigerweise fehlt aber eine vollständige Übersetzung der Bibel. Ab dem 12. Jahrhundert beginnt die neugeorgische Literatur. Hier finden wir nun Ritterrromane, Geschichtsschreibung, höfische Dichtung und die damals übliche wissenschaftliche Literatur. Etwa zu dieser Zeit, zur Zeit der Königin Thamar (1184 - 1213), deren Regierungszeit als Blütezeit der georgischen höfischen Kultur gilt, entstand auch das georgische Nationalepos, das "Wepchis-Tkaossani (Vep'xis tqaosani)" oder "Der Recke im Tigerfell" von Schota Rustaweli, das man ohne Zweifel zur Weltliteratur zählen muss. Als nun in den folgenden Jahrhunderten Georgien sehr oft bittere Zeit unter fremden Herrschaften erdulden musste, erwuchs der georgischen Sprache und der in ihr geschriebenen Literatur gleichsam die Aufgabe, das einigende Band des teilweise unter verschiedenen, sich oft befeindenden fremden Mächten lebenden Volkes zu sein. Das Verdienst Professor Tschenkelis ist es nun, unter schwierigsten Bedingungen diese Bibliothek, die einen nicht geringen Teil des geistigen Erbes seines Volkes beinhaltet, zusammengetragen zu haben, und dass diese Bibliothek jetzt als ein geschlossener Bestand in unserer UB dem interessierten Benutzer zugänglich sein wird, hätte sicher seine volle Zustimmung gefunden.

Dr. Karl Heinz Grüssner
UB-Fachreferate
Tel.: 29-74031


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© TBI 1/1997